Der Bombersucher
Am 17. April 1945 kollidierten zwei US-Bomber beim Angriff auf Dresden. Matthias Schildbach hat den Unfall erforscht und aufregende Funde gemacht
Von JÖRG STOCK, Erschienen in der Sächsischen Zeitung am 19. November 2018
Ein Acker an der Flanke des Lerchenbergs südlich von Dresden. Matthias Schildbach steht im
Kraut und späht in den hellblauen Himmel, wo die Kondensstreifen mehrerer Flugzeuge sanft zerfließen. Wer weiß, was da oben so passiert, sagt er zu sich. Matthias Schildbach ist kein Flieger. Er ist gelernter Buchhändler und Ergotherapeut. Aber nachts, wenn er im Bett liegt, träumt er manchmal von Fliegern. Dann laufen Szenen in seinem Kopf ab, die stets dasselbe
Ende haben: Zwei B-17-Bomber, fliegende Festungen, zerplatzen in der Luft und gehen als Feuerbälle irgendwo nieder.
Eine solche Absturzstelle kennt Matthias Schildbach. Sie liegt in der Dippoldiswalder Heide, in dem großen Waldstück hinter seinem Rücken. An diesem Dienstag vergangener Woche ringen dort zwei einsame Feuerwerker mit elf Fünf-Zentner-Bomben um Sein oder Nichtsein. Es gibt
keinen Zweifel: Diese Bomben hat vor 68 Jahren ein abgestürztes Flugzeug verloren. Jetzt hofft ein ganzer Landstrich, dass es keine neuerliche Katastrophe gibt.
Matthias Schildbach. der an diesem Tag von Weitem bei der Entschärfung zuschaut. ist elektrisiert. Die Bomben sind neue Teile in seinem Puzzle. Er hatte geglaubt, sie seien nach dem Krieg fortgeschafft worden wie die meisten Flugzeugtrümmer. Womöglich ist er mehrfach arglos über die Sprengkörper gestiefelt, als er im Wald nach Resten des Wracks suchte.
Es war im September dieses Jahres, da sah er einen Bauwagen an seiner Suchstelle und Leute. die mit Metallsonden umherliefen. Es waren Munitionsräumer. die im Auftrag des Freistaats Patronen und Granaten bargen, eine lange bekannte Altlast. Schildbach ging hin und erzählte ihnen von dem Flugzeug. Da war schon die erste Bombe aufgetaucht.
Der unverhoffte Fund hatte die Munitionsräumer kalt erwischt. Nun klappte Matthias Schildbach vor ihnen seinen dicken Aktenordner auf. Er zog den Tagesbefehl für die 92. Bombergruppe der United States Army Air Force heraus. Er las vor, dass die hier zerschellte Maschine vierzehn 500- Pfund-Bomben geladen hatte. Da wurde den Sprengstoffsuchern klar, dass die drei Krater im Wald Bombentrichter sind. Und dass sie noch zehn Bomben finden müssen.
Matthias Schildbach ist 36, Familienvater, Angestellter in einem Pflegeheim und glühender Hobby-Historiker. Aus Kreischa Stammend, schrieb er im „Boten vom Wilisch“ über Heimatgeschichte. Dann biss er sich beim Forschen an einem bestimmten Tag fest, dem 17. April 1945. Es ist der Tag, an dem der schwerste Luftangriff auf Dresden stattfand, mit mehr Flugzeugen als zuvor am 13. Februar. Dieser Angriff sollte die letzten intakten Bahngleise sprengen und das Schlupfloch zwischen sowjetischer und amerikanischer Front stopfen.
Schildbach recherchierte eigentlich im Fall eines Bombers, der bei Babisnau in einen Steinbruch gestürzt war. Dabei traf er den ehrenamtlichen Luftkriegshistoriker Horst Giegling aus Geising. Der brachte Ihn auf die zerschellte B-17 in der Dippser Heide. Im Jahr 2000 begannen beide, den Absturz zu untersuchen. Sie streiften durchs
Unterholz. suchten Flugzeugteile, tauschten sich aus. Matthias Schildbach bohrte sich immer tiefer in die Materie. Er begann, US-Archive abzugrasen, schrieb Briefe nach Amerika in der Hoffnung, die Familien der Piloten oder gar überlebende der Besatzung zu finden. Und das Unwahrscheinliche trat ein: Er bekam Antwort.
„Dear Matthias! Writing is very hard for me as I am 90 years old.” So beginnt der Brief, den Misses Olga Huether aus Casa Grande, Arizona. im März 2003 an Matthias Schildbach schickt. Die Zeilen wirken ungelenk, rutschen zum Briefrand hin ab. Das Schreiben muss ein Kraftakt gewesen sein für die neunzigjährige Lady, die Witwe von Arthur H. Huether. First Lieutenant Huether war Pilot von Maschine 448903, jenes Bombers, der in die Dippser Heide
stürzte. Arthur, so schreibt Olga, habe nicht viel über den Krieg reden mögen. „Er sagte nur, dass ein anderer Bomber unter sie kam und seine Maschine unter seinem Sitz auseinanderbrach. Er sah sich um und da war nichts mehr übrig. Da drehte er sich herum und ließ sich einfach aus seinem Sitz fallen.“
Arthur Huether rettete sich am Fallschinn und landete, wie Olga berichtet, in einem Waldgebiet, ausgestattet mit einem Sandwichund einem Schokoladenriegel. Außer Huether schaffte nur sein Co-Pilot, Second Lieutenant Framk K. Jones, den Sprung aus der zersägten B-17. Die anderen aus der Crew sah er nie wieder.
Im Jahr 2010 findet Matthias Schildbach den Piloten der zweiten Maschine, lebend. John W. Paul jr. wohnt 90-jährig in Baltimore, Maryland. Er schildert die Momente nach dem zusammenstoß so: „Ich kann nur vermuten, dass ich ein oder zwei Minuten bewusstlos war als das Flugzeug nach unten trudelte. Die Notausstiegsklappe war durch die Kollision abgebrochen und ich schaffte es hinüberzukriechen und abzuspringen. Es war offensichtlich, dass das Flugzeug, das zu meiner Rechten flog, über meine Maschine gedriftet und kollidiert war, die Propeller zerfraßen das Flugzeug und die Motoren wurden dabei wahrscheinlich augenblicklich zerstört.“
Hobbyhistoriker Schildbach fand über das Internet Schlüsseldokumente in US-Archiven, darunter Berichte über vermisste Flugzeugbesatzungen des Zweiten Weltkriegs, die Missing Air Crew Reports. Nur wenige Maschinen waren am 17. April beim Angriff auf Dresden verloren gegangen. Es war nicht schwer, herauszufinden, welche Flugzeuge nach einer Kollision in der Luft in die Dippser Heide gestürtzt sein konnten. Bei der Trümmersuche im Wald hatten Schildbach und sein Geisinger Forscherkollege ein Bauteil mit einer Seriennummer gefunden. Es gehörte eindeutig zur Maschine von Arthur Huether.
In den Berichten fand Matthias Schildbach auch die Namen der Crew-Mittglieder. Er googelte und googelte, bis er auf der richtigen Spur war. Zum Glück lebten die einstigen Flieger in überschaubaren Ortschaften. Das machte es leichter, sie zu finden. Mit den Jahren hat Schildbach ein erstaunlich komplettes Bild von den letzten Stunden der Unglücksmaschinen zusammengepuzzelt.Und so sieht es aus:
Um 0.05 Uhr an jenem 17.April 1945 erhält die 92. Bombergruppe, stationiert in Podington, England, ihre Tagesbefehle. Es wird der Einsatz von 32 B-17-Bombern, drei Reserve- sowie vier er Pfadfindermaschienen befohlen. Am frühen Morgen weckt man die Besatzungen, 6.15 Uhr beginnt das Briefing, die Einsatzbesprechung. Das Ziel ist Dresden, die Stadt liegt unendlich weit weg von der Heimatbasis. Man hat Respekt vor der deutschen Flak und vor den neuen Raketenjägern der Luftwaffe. Gegen die pfeilschnellen Messerschmitt Me 262 können die Bombenflieger mit ihren Maschinengewehren fast nichts ausrichten.
Parallel zum Briefing werden die Bomber beladen. Um Dresdens Bahnanlagen, speziell den Verschiebebahnhof in Friedrichstadt, zu zerstören, bekommt Jedes Flugzeug vierzehn 250 Kilogramm schwere Sprengbomben in den Bauch gepackt. Um 9.15 Uhr starten die Maschinen. Sie fliegen, grob gesagt, Richtung Eger und den Erzgebirgskamm entlang bis zu einem Sammelpunkt südlich von Olbernhau. Dort sortiert sich die gewaltige Streitmacht aus beinah 600 Maschinen und nimmt in rund 6000 Metern Höhe Kurs auf Dresden.
Die 92. Bombergruppe schwimmt mitten im Fliegerstrom. Da kommt, etwa auf halbem Wege, eine Order. Pilot John W. Paul: „Als wir auf das Ziel zusteuerten, konnte die Führungsmaschine aus irgendwelchen Gründen die Bomben nicht werfen, und wir wurden angewiesen, mit einer 360-Grad-Wende einen zweiten Zielanflug zu beginnen. Mit all den Flugzeugen, die auf derselben Höhe flogen, war das extrem gefährlich. Der Grund für die Wende ist der wolkige Himmel. Der Schütze im Führungsbomber kann das Ziel nicht sehen. Während des Kurvenfluges sollen die Maschinen um 2.000 Meter sinken und dabei die Wolkendecke durchstoßen. Den Angriff ihrer Schwadronen, der um 14.13 Uhr beginnt, erleben Arthur H. Huether und John W. Paul nicht mehr mit. Der Tagesbericht der 92. Bombergruppe vermerkt die Crews der beiden Piloten als 'Missing in Action'.
Arthur Huethers Flugzeug, eine B-17, zog eine 2 Kilometer lange Trümmerbahn durch den Wald bei Dippoldiswalde - das jähe Ende eines nahezu neuen Kriegsgeräts. Der Bomber war erst vier Wochen im Dienst gewesen. Huether war, so scheint es, vom Pech verfolgt. Sechs Wochen zuvor, am 3. März 1945, war er über Belgien schon einmal kollidiert und abgestürzt. Ein Mann starb dabei. Er und sechs Soldaten von Huethers Crew, die ebenfalls starben, werden in der Heide begraben. 1949 holen die Amerikaner sie heim. Einwohner erzählen noch heute, dass es Bohnenkaffee und Zigaretten für die Waldarbeiter gab, die bei der Exhumierung halfen.
68 Jahre nach dem Absturz ist die Munitionsentschärfung am vorigen Dienstag geglückt. Die Bomben werden nun in der Zerlege-Anstalt Zeithain sicher verbrannt. Aber wo ist das nächste Flugzeug, John Pauls Bomber, geblieben? Manfred Schlobach will auch diesen Punkt unbedingt klären. Er hat Tipps zur Absturzstelle. Konkretes will er nicht sagen, aus Sorge, Munitionssammler könnten an der Stelle anrücken. Liegen auch hier noch Bomben? Der Kampfmittelräumdienst wird im kommenden Frühjahr nachsehen.